Warum ist die Gewaltfreie Kommunikation so einfach zu lernen und so schwer zu integrieren?
Diese Frage hat sich für mich erhellt, seit ich die Wilber´sche Unterscheidung von „Zuständen“ und „Stufen“ des menschlichen Bewusstseins gefunden habe. Diese Unterscheidung ist eine der hilfreichsten Erkenntnisse, die ich der Integralen Sichtweise zu verdanken habe.
Über die obige Frage hinaus, berührt diese Unterscheidung weitere Themen wie:
- „Lebensdienliche“ von „lebensfeindlichen“ Bewertungen unterscheiden – anstatt zu behaupten „ich bewerte nicht!“ oder – schlimmer, weil in sich widersprüchlich – „Bewerten ist schlecht“
- Lernstufen der Gewaltfreien Kommunikation erkennen – anstatt zu sagen, jeder der einige Seminartage hinter sich hat, „mache Gewaltfreie Kommunikation“
- Klarheit über die (begrenzte) Fähigkeit von Kindern erlangen, die Gewaltfreie Kommunikation zu lernen und zu leben – anstatt zu denken, Kindern seien „natürliche Giraffen“ (Giraffen sind das Symboltier der Gewaltfreien Kommunikation)
Ich werde erst kurz mein Verständnis von „Zuständen“ und „Stufen“ des Bewusstseins darlegen und einige wesentliche Unterschiede zeigen. Danach werde ich einige Konsequenzen für das Lernen und die Integration der Gewaltfreien Kommunikation zeigen.
Bewusstsein: Zustände und Stufen
Unterschiedliche Bewusstseinszustände erleben wir alle mehrmals täglich. Jetzt gerade, wenn du dies liest, bist du wahrscheinlich wach (ein Bewusstseinszustand), vielleicht träumst du auch vor dich hin (ein weiterer Bewusstseinszustand). Eher unwahrscheinlich ist, dass du schläfst. Vielleicht machst du gerade eine nicht-duale (Einheits-)Erfahrung machst (Flow-Erfahrung, „Sich im Tun vergessen“).
Einige Bewusstseinszustände (nicht vollständig):
- Wachen
- Träumen (auch „wach träumen“, Traumreisen, etc.)
- Tiefschlaf (traumlos)
- Nicht-dual („Flow“, „empathischer Kontakt“, Meditation etc.)
Bewusstseinsstufen erleben wir nicht bewusst, man kann eher sagen, wir füllen sie aus, wir leben in ihnen. Entwicklungspsychologen sind sich im Wesentlichen einig, dass der Mensch mehrere große Bewusstseinsstufen durchläuft, die grob mit prä-egoisch, egozentrisch, soziozentrisch und weltzentrisch beschrieben werden.
Diese Stufen sind nicht klar getrennt, sie verschwimmen, gehen fließend ineinander über – man könnte sie auch als Bewusstseinswellen beschreiben. Wir können auf tiefere Stufen zurückfallen, jedoch keine Wachstumsstufen überspringen. Die späteren (höheren) Wellen schließen die vorhergehenden Stufen mit ein und bringen eine neue Weltsicht (und oft neue Fähigkeiten) hervor.
Einige Bewusstseinsstufen (nicht vollständig):
- Prä-Egoisch („Vor-Ich“)
- Egozentrisch („Ich-Denken“)
- Soziozentrisch („Wir-Denken“)
- Weltzentrisch / Autonom / Integral („Wir-alle-Denken“)
Unterschiede von Zuständen und Stufen
Stufen sind stabil – Zustände kommen und gehen
Da Stufen ein Zeichen von Wachstum sind, gehen sie nicht mehr verloren – wer einmal Lesen gelernt hat, verliert dies nicht mehr.
Die verschiedenen Bewusstseinszustände durchlaufen wir alle mehrmals pro Tag.
Stufen haben eine natürliche Abfolge, Zustände nicht
Bewusstseinsstufen können nicht übersprungen werden. Niemand wird „soziozentrisch“ geboren. Empathie, eine komplexe Fähigkeit, kann erst ab der egozentrischen Stufe erlernt werden. Spätere/höhere Stufen folgen auf frühere/niedrigere, schließen diese mit ein und eröffnen eine weitere „Weltschau“.
Bewusstseinszustände dagegen können auf allen Stufen auftreten – auch Babys sind wach oder träumen. Stufen sind untereinander unvereinbar, sie schließen sich gegenseitig aus: Man kann nicht gleichzeitig wach sein und schlafen.
Bewusstseinsstufen lebe ich, Zustände erlebe ich
Hast du heute schon geschlafen, geträumt, meditiert? Bist du jetzt wach?
Bewusstseinszustände werden mehr oder weniger bewusst erfahren und wir können, zumindest im Nachhinein, beschreiben, in welchem wir gerade sind (oder waren).
Bin ich ego- oder soziozentrisch?
Diese Frage ist sinnlos, weil Menschen die Bewusstseinsstufe, auf der sie sich gerade befinden, nicht aus sich heraus erkennen können. Eine Bewusstseinsstufe hat die Qualität einer Weltsicht, sie ist „alles was wir kennen und erkennen können“ (Wilber). Wir können Bewusstseinsstufen von Menschen nur durch Beobachtung ihres Denkens und Verhaltens über einen längeren Zeitraum erkennen und beschreiben (was Entwicklungspsychologen tun).
Ein buddhistischer Lehrer hat mal geschrieben, dass ein Fisch im Wasser kein Wasser kennt – es ist einfach seine ganze Welt(sicht). Ein Kind, dessen Schwerpunkt auf der Egozentrischen Stufe liegt (wichtig: Egozentrisch und Egoistisch sind nicht das Gleiche, s. die Fußnote zu diesem Artikel) hat die Unterscheidung „Ich“ und „Welt“ voll integriert und lebt nun überwiegend im „Ich“ – was neue und spannende Möglichkeiten eröffnet – aber es würde niemals von sich sagen „Ich war egozentrisch“ oder „Ich denke überwiegend an mich“.
Alles Stufen sind ok und höhere Stufen sind umfassender, liebevoller, mitfühlender
Jede Stufe ist ok und gleichzeitig bringen höhere Stufen tieferes Mitgefühl, mehr Rücksicht, größere Liebe mit sich. In diesem Sinne ist es besser (für alle!), wenn Menschen auf der weltzentrischen als auf der soziozentrischen Stufe sind – denn erst auf der weltzentrischen Stufe sind Menschen bereit, die Bedürfnisse aller Menschen zu berücksichtigen, anstatt nur die der eigenen Gruppe, Familie, Stamms.
Was hat das mit Gewaltfreier Kommunikation zu tun?
Wer sich dies schon leicht ungeduldig fragt, hier schnell eine Antwort:
Die „Vier Schritte der Gewaltfreien Kommunikation“, die mich mit meiner inneren Wahrnehmung von Gedanken, Gefühlen und Bedürfnisse verbinden, führen zu einem Bewusstseinszustand.
Die Haltung, die die Gewaltfreien Kommunikation leben und fördern möchte (weltzentrisch, „alle Menschen haben die gleichen Bedürfnisse“ etc.), ist eine Bewusstseinsstufe.
Die „Vier Schritte“ als Bewusstseinszustand
Bewusstseinszustände sind, wie gesagt, allen Menschen prinzipiell zugänglich. Jeder kann die „Vier Schritte“ (Beobachtung, Gefühle, Bedürfnisse, Bitten) lernen, bekommt Kontakt zu Gefühlen und den damit verbundenen Bedürfnissen. Die vier Schritte sind in gewisser Hinsicht wie ein „Mantra“, dass uns hilft, unser Bewusstsein auf diesen Aspekt zu lenken – weg vom „Außen“ (Auslöser, Handeln etc.) hin zu unserer Innenwelt von Gedanken, Gefühlen und Bedürfnissen.
Kleiner Exkurs: Kinder und Gewaltfreie Kommunikation
Dieser Schwenk des Bewusstseins vom Außen zum Innen ist auch Kindern möglich. Tatsächlich erlebe ich Kinder oft mehr mit ihren Gefühlen verbunden als viele Erwachsene. In diesem Sinne sehe ich Kinder tatsächlich „näher dran“ an der Gewaltfreien Kommunikation. Allerdings sind sie in einem anderen, wichtigen Sinne (noch) weit(er) von der Haltung entfernt, die ich mit Gewaltfreier Kommunikation verbinde.
Denn einem Kind, dass seinen (natürlichen) Entwicklungsschwerpunkt (noch) auf der egozentrischen Stufe hat, ist es unmöglich, in seinem Bewusstsein die Bedürfnisse anderer Menschen genauso „dringend“ wahrzunehmen wie die eigenen. Daran ist nichts „Böses“ oder „Falsches“, dies ist ein wichtiger und natürlicher Entwicklungsschritt des menschlichen Bewusstseins.
Gewaltfreie Kommunikation fördert das Wachstum über Bewusstseinsstufen
Bewusstseinsstufen werden über mehr oder weniger lange Zeit „erarbeitet“. Sie sind nicht jederzeit zugänglich, aber wenn ein Mensch eine gewisse Stufe erreicht hat, geht sie nicht mehr verloren. Wer einmal Lesen gelernt hat, verlernt dies nicht mehr.
Wenn Teilnehmer in Seminaren ein Fallbeispiel zu einem Konflikt bearbeiten und die gerade erlernten „4 Schritte der Gewaltfreien Kommunikation“ aktiv in ein Gespräch einbringen möchten, wird deutlich, wer in der Lage ist, im Dialog die Bedürfnisse der Gegenseite genauso wahrzunehmen und zu berücksichtigen wie die eigenen – und wer nicht.
Und noch einmal: Daran ist nicht Falsches! Genauso wie es unsinnig wäre, von einem Baby zu verlangen, dass es bereits lesen kann, so ist es unsinnig von einer, wie Marshall Rosenberg es manchmal nennt, „Babygiraffe“ zu erwarten, dass sie sofort für andere die gleiche Empathie aufbringt, die sie erst selbst braucht.
Wachstum und Entwicklung brauchen Zeit – auch in der Gewaltfreien Kommunikation
Um die Ausgangsfrage zu beantworten: Die „Vier Schritte der Gewaltfreien Kommunikation“ sind schnell gelernt, aber die Bearbeitung der inneren Konflikte, Feindbilder, alten Verletzungen und Glaubenssätze braucht – individuell sehr unterschiedlich – mehr oder weniger lange Zeit. Diese verletzten Anteile liegen oft wie ein Schatten über unserer mitfühlenden Natur und die Gewaltfreie Kommunikation ist ein wunderbares Werkzeug, um Licht in diese gewalttätige (Innen-)Welt zu bringen.
Es scheint in der Natur von Bewusstseinsstufen zu liegen, dass diese nicht beliebig schnell durchlaufen werden können. Aus meiner eigenen Lernzeit (die noch lange nicht beendet ist!) kann ich sagen, dass ich nach nach 2-3 Jahren intensiver Praxis halbwegs in der Lage war, in schwierigen Gesprächen die Bedürfnisse anderer gleichzeitig mit meinen wahrzunehmen (und meine Partnerin würde sicher sagen, dass da noch weiterer dringender Wachstumsbedarf bei mir bestehe :o)
Schöne Übersicht! Und absolut übereinstimmend mit meiner Erfahrung!
Lieber Markus,
danke für die Klarheit, die mir diese Ausführungen bezüglich der Ansprüche an meine eigene Entwicklung gegeben haben und für die Unterstützung bei der Einfühlung für meinen „inneren Wolf“ 😉
Hallo Niklas, Ottmar,
vielen Dank für Eure wertschätzenden Kommentare – freuen mich sehr!
Mit herzlichen Grüßen,
Markus Sikor
ja, und deshalb liebe ich es, die trainings bei m. rosenberg direkt zu besuchen.
es grüsst
ursula
Hallo Ursula,
da gebe ich dir Recht, Marshall Rosenberg hat alleine schon durch die lange Zeit, die er sich mit dem Thema beschäftigt einen erheblichen „Lernvorsprung“. Darüber hinaus hat er einen einzigartigen Erfahrungsschatz durch seine Arbeit mit und in sehr schwierigen Situationen (Mißbrauch, Krieg, Rassissmus etc.). Für mich war und bleibt Marshall Rosenberg sehr inspirierend. Gleichzeitig hat auch er, wie wir alle, seine „blinden Flecken“ hat – das bleibt nicht aus als „normaler“ Mensch.
Hallo Markus S.,
ich kann allen nur zustimmen: Du schaffst mit Deinem Beitrag weitere Klarheit. Habe ich doch die Umsetzungsschwierigkeiten gerade heute in meiner Partnerschaft erlebt 🙂
(Wirklich intensiv beschäftige ich mich mit GfK noch nicht lange genug, kenne auch Rosenberg noch nicht persönlich.)
Viele Grüße
Björn
Hallo Björn,
Freut mich, wenn dir der Beitrag gefallen hat – vielen Dank für deinen Kommentar! Na, dann wünsche ich dir „große Giraffenohren“ in deiner Partnerschaft ;o)
Mit herzlichen Grüßen,
Markus Sikor
Hallo Markus,
Die Unterscheidung leuchtet mir noch nicht ganz ein:
In der Kommunikation bin ich auf jeden Fall wach, egal wie ich sie gestalte. Also daran liegt es nicht.
In den Entwicklungsstufen nach Wilber geht es darum, ob und in wen und wie gleichwertig ich mich einfühlen kann. Dies ist eine langfristige biografische und historische Entwicklung.
In der gewaltfreien Kommunikation erlebe ich aber, dass ich mich im Moment entscheiden kann, worauf ich meine Aufmerksamkeit richte, also insbesondere auch auf Gefühle und Bedürfnisse aller Beteiligten. Das kann sicher auch ein Übungsweg sein, um über Jahrzehnte eine höhere Entwicklungsstufe nach Wilber zu erreichen. Aber zunächst einmal kann ich entscheiden, üben und mir angewöhnen, diese Haltung einzunehmen. Und das geht sofort, was sicherlich die entsprechende Bewusstseinstufe voraussetzt. Es ist damit aber noch nicht im Alltag garantiert.
Darum geht es mir in der gewaltfreien Kommunikation.
Hallo Henning,
vielen Dank für deinen Kommentar und deine Beteiligung hier, freut mich!
Ich verstehe deinen Einwand nicht ganz. Geht es dir darum, dass man sich entscheiden kann, auf was ich reagiere im Gespräch?
Ja, wir haben eine Entscheidungsfreiheit, z.B. die GFK zu üben, das sehe ich wie du.
Deine Meinung „In der Kommunikation bin ich auf jeden Fall wach, egal wie ich sie gestalte“ kann ich so nicht teilen. Eher im Gegenteil. Die meisten Gespräche laufen meiner Meinung nach „schlafend“, also in Unklarheit und Unbewusstheit über die ausgedrückte Intention, über die zu erfüllenden Bedürfnisse etc. Da ist die GFK ein Übungsweg, der diese Bewusstheit und Klarheit fördert und unterstützt.. Dauert ein bisschen – aber nicht Jahrzehnte, ich denke an 2-5 Jahre. So lange dauert es bis ich in Konflikten in der Mehrzahl der Fälle (nie völlig) die Auslöser von den Ursachen meiner Gefühle trennen kann und damit klarer bekomme. „Sich entscheiden, eine Haltung einzunehmen“ und „eine Haltung integriert haben“ ist nicht das Gleiche. Das meine ich mit der Unterscheidung in meinem Artikel.
Viele Grüße und alles Gute!
Markus
Hallo Markus,
danke für die prompte Antwort!
Die Kommunikation im Schlaf ist doch wohl allegorisch zu verstehen. Spannender finde ich schon, wenn sehr einfühlsame Gespräche zu einem Flow-Zustand führen. Das wäre tatsächlich ein lohnendes und realistisches Ziel der gewaltfreien Kommunikation.
Ich frage mich, ob das Klären der eigenen Gefühle und Bedürfnisse mit ihren Ursachen und Vorurteilen noch ein anderer Lernvorgang ist als die Einfühlung in den Gesprächspartner. Mir geht es um Letzteres. Da habe ich den Eindruck, dass es keine so grundverschiedenen Entwicklungsstufen gibt, wie ich es bei Ken Wilber noch einleuchtend fand, sondern dass alle Gruppenteilnehmer dazu sofort -wenn auch stockend und mühsam- in der Lage sind, wenn die Übungssituation oder der eigene Entschluss es erfordern. Den Sinn all der Schulungen und Übungen sehe ich darin, dies durch bewussten Entschluss immer wieder zu üben. Und die 4 Schritte sollen den Weg bahnen.
Henning