Wenn wir Bedürfnisse, das “Herz” der gewaltfreien Kommunikation, integral betrachten, können wir einige interessante Entdeckungen machen.
Die integrale Denkweise zeigt uns, dass wir alles von mindestens 4 Perspektiven aus betrachten können – als Individuuum und Kollektiv, von “Innen” (subjektiv) und von “Außen” (objektiv). Üblicherweise wird dies in einem 4-Quadranten-Modell dargestellt (s. Abbildung, nach Ken Wilber).
Die 4 Quadranten und Bedüfnisse
Quadrant I: oben-links (OL): Individuell-Innen
Quadrant II, oben-rechts (OR), Individuell-Außen
Quadrant III, unten-links (UL), Kollektiv-Innen
Quadrant IV, unten-rechts (UR), Kollektiv-Außen
Auf den Menschen bezogen kann man sagen, dass die Quadranten folgendes darstellen:
Quadrant I, OL: Emotionen, Gefühle, Bedürfnisse, Gedanken (“Ich-Sicht”)
Quadrant II, OR: Körper, Hormone, Verhalten (“Es-Sicht”)
Quadrant III, UL: Werte, Ethik, Kultur (“Wir-Sicht”)
Quadrant IV, UR: Strukturen, Institutionen (“Es-Sicht” kollektiv)
Bedürfnisse sind nicht “wahr, sondern subjektiv stimmig
Mit diesem “4-Quadranten-Modell” können wir Bedürfnisse integral beschreiben und verstehen. Zum einen ist die integrale Grundaussage wichtig, dass keiner der 4 Quadranten vollständig durch einen der anderen beschrieben oder auf diesen reduziert werden kann. Die subjektive “Innensicht” eines Menschen, seine Gedanken und Gefühle (Quadrant OL) können nicht durch die elektrischen Signale seines Gehirns (Quadrant OR) verstanden werden.
D.h. Bedürfnisse sind durch äußere Prozesse nachweisbar (Hormone, EEG), sie können aber nur im Dialog mit dem Menschen, d.h. im Dialog mit dessen Inneren sinnvoll verstanden werden. Während es im Äußeren um “Wahrheit” geht (nachweisbar durch wissenschaftliche Methoden) geht es im Inneren um “Stimmigkeit”.
Daher führt auch die Frage, ob ein Bedürfnis nun ein echtes Bedürfnis ist, am eigentlichen Kern vorbei. Es geht eher darum, ob das Bedürfnis (oder das Wort, das dafür benutzt wird) von den beteiligten Personen als “stimmig” erachtet wird. Interessanterweise haben wir in der Gewaltfreien Kommunikationdie Unterscheidung “Bedürfnis – Strategie”, die ziemlich genau der Unterscheidung Innen – Außen der Integralen Theorie entspricht. Hierbei geht es also um die Klarheit, ob das Bedürfnis als im Inneren als stimmig erachtet wird, ober noch mit “Äußerem” (Strategien) verknüpft wird.
Solange ein Bedürfnis mit Strategien vermischt ist, d.h. gedanklich an äußere Vorstellungen zur Erfüllung des Bedürfnisses gebunden ist, solange ist die Person nicht ganz im “Inneren” angelangt und das Bedürfnis wird wahrscheinlich nicht stimmig formuliert.
Bedürfnisse werden durch die Kultur beeinflusst
Zum weiteren zeigt uns die Integrale Theorie, dass sich alle 4 Quadranten gegenseitig beeinflussen und nicht unabhängig voneinander erklären oder verstehen lassen. Das Individuum beeinflußt das Kollektiv, das Kollektiv beeinflusst das Individuum. Vor diesem Hintergrund muss man nun auch Bedürfnisse betrachten. Obwohl Bedürfnisse auf einer sehr tiefen Ebene durch körperliche Prozesse innerlich gespürt werden (Quadrant OL), so ist der Prozess der Verbalisierung ein stark kulturell beeinflußter Prozess (Quadrant UL).
Die Begriffe, die wir für Bedürfnisse verwenden, sind uns durch unsere Kultur gegeben – darüber können wir nicht individuell entscheiden. Auch die gemeinschaftlichen Werte haben natürlich Einfluss darauf, welche Bedürfnisse wir in uns “entdecken”. Diese sind zwar potentiell in allen Menschen gleich angelegt, aber eine Kultur in der nur die Gruppe zählt, wird das Bedürfnis nach “Selbstverwirklichung” auf Unverständnis stoßen.
Darüber hinaus hat auch der Quadrant Unten-Rechts, also die äußere Struktur, die wirtschaftlichen Produktionsbedingungen, die “Umwelt” usw. erheblichen Einfluss auf die individuellen Bedürfnisse. So hat das Bedürfnis nach körperlicher Sicherheit z.B. für jemanden, der als Sklave zur Zeit der Sklavenhaltung lebte einen völlig anderen Stellenwert als für Menschen in der modernen Industriezeit.
Literaturhinweise: Ken Wilber, “Eine kurze Geschichte des Kosmos”,
“Einfach Das”, “Eros, Kosmos, Logos”
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