Diese Situation kennt bestimmt jeder, der schon mal Seminare in Gewaltfreier Kommunikation besucht hat. Plötzlich reden alle etwas komisch, antworten kryptisch und sagen Dinge wie „Das war aber jetzt nicht gewaltfrei!“ (siehe z.B. dieser Blogeintrag eines anscheinend leicht „GFK-Geschädigten“ ).
Vielen Neulingen in der Gewaltfreien Kommunikation (und nicht nur diesen ;o) unterläuft in der ersten Begeisterung der Fehler, dass sie denken, sie hätten nun die „richtige“, „lebensbereichernde“, „gewaltfreie“ Sprache gefunden – und dass man nun doch bitte nur noch in „Gefühlen und Bedürfnissen“ sprechen möge, weil dadurch das Leben viel einfacher, schöner und harmonischer würde. (An dieser Stelle bekomme ich dann immer lang anhaltende Schreikrämpfe… ;o)
Scherz beiseite, was hier passiert ist die typische Prä-Trans-Verwechslung, wie sie Ken Wilber beschrieben hat (*). Kurz gesagt heißt das: Anhand der verwendeten Worte kann man nicht sagen, ob jemand im Sinne der Gewaltfreien Kommunikation handelt und spricht – oder nicht.
Der Satz „Du bist doof!“ kann perfekt gewaltfrei sein, der Satz „Ich bin erschöpft und brauche Unterstützung – magst Du mir helfen?“ kann die Kommunikationsbombe schlechthin sein.
Die einzige Unterscheidung ob gewaltfrei oder nicht, ist die Intention und Bewußtheit aus der heraus jemand spricht und handelt. Oder in Marshall Rosenbergs Worten „If you think other people are jackals then you are the jackal“ („Wenn Du denkst, andere Menschen sind wölfisch (d.h. „nicht gewaltfrei“, ), dann bist selbst Du der Wolf“).
Um Klarheit in diese Verwirrung zu bringen hilft die Prä-/Trans-Unterscheidung. Nach Ken Wilber vollzieht sich jede Entwicklung, jedes Lernen in drei Stufen:
Präkonventionell, konventionell, transkonventionell (auch postkonventionell genannt).
Am Beispiel der des Kochens (oder jeder anderen erlernten Fähigkeit) lässt sich dies leicht verdeutlichen. Bevor man die „Regeln der Kochkunst“ gelernt hat und die Zutaten und Gewürze kennt, sind die Intention und das Ergebnis des Kochens zufällig und ungeplant – man kocht präkonventionell.
Dann lernt man die Regeln, lernt die Ingredienzien und Zutaten kennen, hält sich an Rezepte. Das Ergebnis ist nun geplanter Ausdruck der Intention, allerdings durch die Regeln / Konventionen und Rezepte eingeschränkt – man kocht konventionell.
Wenn man die Regeln integriert hat, kann man sich frei entscheiden, diese zu beachten oder nicht. Man arbeitet situativ, intuitiv, frei – trans- oder postkonventionell.
Auf die Gewaltfreie Kommunikation bezogen:
Präkonventionelle Stufe = keine Bewußtheit über Intention = „Wölfisch“
Wir sprechen, wie wir es gewohnt sind (gelernt haben), ohne über die Intention und Folgen nachzudenken. Wir sind nicht bewusst, dass wir aus Bedürfnissen heraus sprechen und unser Handeln ein Versuch ist, unsere (unbekannten) Bedürfnisse zu erfüllen. Präkonventionelle Sprache, kann „hart“ oder „weich“ sein, angreifend oder nett, auf jeden Fall ist es unbewusst über die Intention und Struktur.
– Form und Struktur: unentwickelt, unbewusst
– Ausdruck der Intentionist: zufällig, wenn überhaupt<
Konventionelle Stufe = formelhafte Sprache („4 Schritte“) = technische „Giraffensprache“
Der bewusste Umgang mit der Sprache führt zu einer starken Anwendung von Regeln und einer (unbewussten) Tendenz der Bewertung, obwohl man doch „nicht bewerten wollte“ (z.B. zu Aussagen wie „Das war nicht Giraffisch!“).
– Form und Struktur: Klare Regeln (4 Schritte), Übungsorientiert
– Ausdruck der Intention: Entwickelt sich, begrenzt durch Regeln und Übungen
Transkonventionelle Stufe = Bewußtheit der Intention der Gewaltfreien Kommunikation = freie, natürliche „Giraffensprache“
Die Regeln sind integriert und können frei nach Situation angewandt werden. Im Kontakt mit authentischen Gefühlen und Bedürfnissen kann man sich frei verhalten und unzensiert sprechen, oder auch nach den 4 Schritten, in freier, in bewusster Wahl.
– Form und Struktur: Frei, die Regeln zu benutzen oder nicht.
– Ausdruck der Intention: Bewusster, freier, unbegrenzter Ausdruck der
Intention.
Prä-/Trans-Verwechslung
Da sowohl „präkonventionell“ und „transkonventionell“ beide „nicht-konventionell“ sind – die eine Stufe hat noch keine Struktur und Reglen für die Formulierung der eigenen Bedürfnisse, die andere ist über Struktur und Regeln hinaus – werden sie leicht verwechselt. Das Problem ist, dass beide Stufen die gleichen Worte und Begriffe verwenden – aber aus völlig unterschiedlicher Intention und Bewußtheit heraus.
Die Intention wird jedoch nicht durch bestimmte Worte und Begriffe deutlich, sondern durch den Gesprächsprozess. Jemand der die Intention verfolgt, durch ein Gespräch Lösungen für die Bedürfnisse aller Beteiligten zu finden (und dementsprechend im Gespräch bleibt) – der handelt „gewaltfrei“ im Sinne der Gewaltfreien Kommunikation, unabhängig davon welche Worte diese Person verwendet und ob sie sich „in Gefühlen und Bedürfnissen ausdrückt“, oder nicht (was, by the way, sowieso ein Widerspruch in sich selbst ist, da Menschen immer ihre Gefühle ausdrücken).
* Die Anwendung dieser Entwicklungsstufen auf die Gewaltfreie Kommunikation erfolgte meines Wissens erstmals durch TrainerInnen des NVC-Training-Institute (USA). Mein Dank an Susan Skye, Towe Widstrand, Wes Taylor und Robert Gonzales!
Neueste Kommentare