Missverständnis Nr. 1:
Gewaltfreie Kommunikation bewertet nicht
Das ist eines der hartnäckigsten Missverständnisse, selbst unter Fortgeschrittenen noch weit verbreitet. Fakt ist: Wir bewerten ständig und immer, unser Organismus prüft andauernd, ob unsere Bedürfnisse erfüllt sind oder nicht und unsere Gefühle weisen uns darauf hin.
In der Gewaltfreien Kommunikation lernt man, seine eigenen Bewertungen, Gefühle und Bedürfnisse bewusster wahrzunehmen, die Verantwortung dafür zu übernehmen und eine Haltung anzustreben, die die Bedürfnisse aller Menschen respektiert und anerkennt.
Gewaltfreie Kommunikation zu praktizieren bedeutet besser bewerten, nämlich selbstverantwortlich für die eigenen Gedanken, Gefühle und Bedürfnisse! Das kann man dann “lebensdienlich”, “gewaltfrei” oder “besser bewerten” nennen – um´s Bewerten kommt man nicht herum.
Missverständnis Nr. 2:
Gewaltfreie Kommunikation heißt in “vier Schritten reden”
Auch eines der häufigeren Vorurteile. Es wird genährt durch eine Menge GFK-Bücher, die auf den vier Schritten Beobachtung, Gefühl, Bedürfnis und Bitten herumreiten und teils gestelzte “GFK-Dialoge” beschreiben. Marshall Rosenberg meinte oft scherzhaft, dass man eine “Baby-Giraffe” (also einen GFK-Anfänger, die Giraffe ist das “Markenzeichen” der GFK) daran erkennt, wie er beim Essen nach dem Salz fragt:
Ich sehe das Salz dort drüben und fühle mich so ungesalzen und habe so ein Bedürfnis nach Unterstützung. Bist du bereit, mir das Salz zu geben?
Klingt absurd, und ist es auch. Also: Die “vier Schritte der GFK” sind in 99% der Fälle dafür gedacht, sich klarer zu werden über die eigenen Bedürfnisse – ohne gleich den Mund aufzumachen. Zu den 1% der Fälle in denen ein verbaler Ausdruck der vier Schritte hilfreich ist, zählen die Mediation, Konfliktklärung, Coaching, Therapie u.ä.
Missverständnis Nr. 3:
Es geht darum, die “richtigen Worte” zu lernen
Es gibt Lernstufen und Entwicklungsschritte, so auch in der Gewaltfreien Kommunikation. Als Neuling ist es hilfreich, sich über die “richtigen Worte” Gedanken zu machen. Zum Beispiel über die Unterscheidungen zwischen authentischen Körper-Gefühlen und Pseudo-Gefühlen, zwischen Bedürfnissen und Strategien etc. Die Betonung der “korrekt gewaltfreien Begriffe” führt jedoch zwangsläufig zu einer technischen, “kopfigen” Sprache, da man zu viel nachdenkt, sich selbst ständig zensiert und korrigiert. Heraus kommt die “Baby-Giraffensprache” (s. Missverständnis Nr. 2).
Um über das Anfängerniveau hinaus zu kommen, muss man diese Ebene verlassen und einen spontanen, authentischen Ausdruck mit den eigenen Gefühlen und Bedürfnissen finden. Dies geschieht in der Ausbildung durch Empathieprozesse, in denen man lernt, seine Gefühle und Bedürfnisse zuzulassen, sie wahr- und ernst zu nehmen. Mit etwas Erfahrung kann man sich im Gespräch wieder entspannen, bleibt innerlich in Kontakt mit sich selbst und verwendet eine kontextangepasste, natürliche Sprache
Missverständnis Nr. 4
Wenn man GFK macht, gibt es keine Erwartungen, Forderungen, Pflichten und kein “Müssen” mehr
In der Gewaltfreien Kommunikation geht es um Bewusstheit und Verantwortung für das eigene Handeln. Das heißt, dass ich meine Verantwortung nicht hinter Pflichten, abstrakten Autoritäten oder einem “ich muss das tun” verstecke und damit meine Verantwortung für mein Tun an jemand anders abschiebe (weder an Eltern, Chefs, Politiker oder Gott). Das Leben hat Forderungen an mich, ich muss Entscheidungen treffen, ich muss mit den Konsequenzen meiner Entscheidungen leben, es gibt eine Menge Pflichten, das Finanzamt findet auch, dass ich meine Steuern zahlen muss… etc. Rebellion gegen jegliche Forderungen, Regeln, Pflichten und “Müssen” hat nichts mit einer gewaltfreien Haltung zu tun. Es geht um eine gesunde Balance von selbstverantwortlichen Entscheidungen für meine Bedürfnisse und einsichtsvoller Erfüllung von Erwartungen, Forderungen, Regeln und Pflichten.
Missverständnis Nr. 5:
In der GFK sind “alle Menschen gleich”
Ja und Nein. Es kommt darauf an.
Wenn Du eine Blinddarm-OP benötigst, gehst du dann zu einem Automechaniker oder zu einem Chirurgen?
Da ist es vorbei mit der Gleichheit, oder? Es macht Sinn, das Thema Gleichheit von zwei verschiedenen Seiten zu betrachten.
In der GFK betrachten wir alle Menschen als “gleich” auf der Ebene ihrer Gefühle und Bedürfnisse. Sie sind ein Ausdruck puren “Mensch-Seins” und verbinden uns alle als gleich göttliche Wesen.
Aber Menschen sind auch sehr verschieden! Nicht in ihren Gefühlen und Bedürfnissen, aber in ihren Werten, Alter, Geschlecht, Aussehen, Charakter, Erfahrungen, Begabungen und in all den Strategien, wie sie sich ihre Bedürfnisse am liebsten erfüllen. Daher meine provokante Frage, von wem du dich operieren lassen würdest – wohl nicht von einem Automechaniker, sondern von jemand, dem du dies zutraust, weil er die entsprechende Ausbildung, Erfahrung, Intelligenz und Geschicklichkeit hat.
Fortsetzung folgt…
Cartoon: www.svenhartenstein.de/ANVC/BGFK
Weiterführende Artikel:
Lernstufen der Gewaltfreien Kommunikation
Gewaltfreie Kommunikation – einfach zu lernen, schwer zu integrieren
Hallo Markus!
Wieder mal ein Beitrag in deinem Blog, der mein Leben bereichert. Danke. Und provoziert. Im positiven Sinne allerdings (v. lat. provocare »hervorrufen«, »herausfordern«).
Missverständnisse 1 und 2 waren mir als Missverständnisse bewusst. Missverständnis 3 war auch für mich noch mal wichtig, so klar formuliert zu hören. 5 habe ich noch nie gehört, also noch niemanden getroffen, der GfK so interpretiert. Aber als Trainer hast du natürlich schon mehr GfKler getroffen. Zu 4 möchte ich einen Einspruch erheben:
»Wenn man GFK macht, gibt es keine […] Forderungen […] mehr.«
Ich behaupte dagegen dreist: Wenn es Forderungen gibt, ist es keine GfK. Dazu passt auch dein Beispiel: »[…] das Finanzamt findet auch, dass ich meine Steuern zahlen muss … etc.«
Das ist doch nicht gewaltfrei. Der Staat nennt sich ja sogar ehrlicherweise Gewaltmonopol. Ich habe große Schwierigkeiten mit Zwangsmonopolen — und ganz besonders mit einem auf Gewalt.
Liebe Grüße
Oliver
Hallo Oliver,
ich freu mich, dass du dich so rege hier an meinen Artikeln beteiligst. Dein Engagement für eine gewaltfreie Welt gefällt mir! Dass dir das Gewaltmonopol des Staates nicht gefällt kommt an und ich kann es auf einer theoretischen Ebene auch verstehen – mir ist meine Autnonomie und Freiheit auch wichtig. Und ich hätte auch gerne eine Welt in der alle Menschen sich immer selbstverantwortlich und mitfühlend sind – das Ideal der Gewaltfreien Kommunikation. Aber – und das ist mein Einwand gegen deine Beschreibung von “gewaltfrei” – da ist niemand den ich kenne, mich eingeschlossen. Niemand ist frei von Forderungen, Pflichten, “Müssen” an sich und/oder andere Menschen. (Auch deine Beschreibung von “gewaltfrei” kommt bei mir wie eine Forderung danach an, keine Forderungen mehr haben zu dürfen – sonst bin ich nicht “gewaltfrei”). Das halte ich für ein Ideal, eine Vision an der ich mich gerne innerlich ausrichten möchte – aber sobald daraus ein “Muss” wird, beisst sich die Giraffe in den eigenen Schwanz und wird zum Wolf, weil das weh tut (you know what I mean ;o)
Herzliche Grüße
Markus
Hallo Herr Sikor,
das ist aber mal eine schön übersichtliche und eingängige Zusammenstellung von Don’ts in der GFK. Ersetzt schon fast eine Seminar.
Kompliment an Ihren schönen bildreichen Blog und kollegiale Grüße aus Berlin
Ulrike Rheinberger
Hallo Frau Rheinberger,
vielen Dank für den netten Kommentar und das Lob meiner Website – freut mich sehr! Die Cartoons von Sven Hartenstein ersetzen glaube ich auch fast ein Seminar…
Alles Gute!
Markus Sikor
“Ich fühle mich von euch nicht verstnaden”
“Stopp – das ist kein Gefühl”
“Oh ja, stimmt ! Okay, nocheinmal..Ich fühle mich ausgeschlossen, wenn..”
” `Ausgeschlossen` ist eine Bewertung – verstehst du?”
“Aha..okay noch einmal..ich fühle mich halt nicht verstanden..Ich wollte bei dem Spiel mitmachen und ich habs ganz anders gemeint..”
“Was ist konkret dein Bedürfnis, und danach sage deine Bitte?”
“Ich weiß nicht, was soll ich sagen ? Ich wünsche mir Respekt!”
“Nein, ein Wunsch ist kein Befürfnis, du musst eine konkrete Bitte stellen, sage besser, ich hätte gern mehr Respekt und anschließend eine konkrete Bitte”
“Aha, ja ich hätte gerne mehr Respekt und ich will, dass ihr mit mitspielen lasst, weil ich es anders gemeint hatte.”
“oh, das ist aber keine Bitte, das klingt eher nach einer Forderung, probiers noch einmal von Beginn an”
“Gut, du hast vorhin gesagt, ich hätte gesagt, dass ich nicht mitspielen möchte, aber das ist falsch..”
“Stopp, die Beobachtung ist zu lang und das Wort “Falsch” ist eine Bewertung !”
(…)
Hallo Sunita,
ja, so und ähnlich klingt dann das, was wir “Babygiraffen-Dialoge” nennen. Am Anfang (des Lernens) ist das ja nicht so schlimm (hoffentlich), denn es ist einen normale Phase, in der man sensibler wird für Dinge, die man vorher nicht so bemerkt hat – dazu dient ja das “4 Schritte Modell der GFK”. Aber wenn es dann so weitergeht entsteht leider eine neue Form von Konflikten, z.B. über die “GFK-Korrektheit” – das ist natürlich absurd, aber leider nicht selten.
Alles Gute und herzliche Grüße
Markus
Lieber Markus !
Es war eine Parodie auf die “Babygiraffen-welt” wie ich sie auch erlebt habe, ich glaube ich hätte auch drauf verzichten können, es gab viel Streit, viel Trennung und manche sind so devotimiert, dass sie GFK Goodbye wünschen, ich denke, zu unterscheiden zwischen LERNEINHEIT und privaten Gesprächen könnte hilfreich sein..
Alles Liebe,
Sumi